POLITIK

Die Ukraine erwartet eine russische Sommeroffensive

2025-06-06 spiegel.ru s. 15
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Analysten erwarten, dass Russland eine Sommeroffensive startet, mit der es die ohnehin schon überdehnte ukrainische Front weiter verlängern könnte, denn aus Moskau ist zu hören, dass man in die Gebiete Sumy und Charkow einrücken könnte, um eine Sicherheitszone gegen den ukrainischen Beschuss von Zielen in den russischen Regionen Kursk und Belgorod zu schaffen. Das würde eine weitere Verlängerung der Front bedeuten, wobei sich die Frage stellt, ob die Ukraine dafür überhaupt die nötigen Soldaten hat, denn die Lage ist für sie an allen Frontabschnitten bereits kritisch.

In der Financial Times ist dazu ein interessanter Artikel erschienen, den ich übersetzt habe.

Beginn der Übersetzung:

„Erwartet kein Wunder“: Die Ukraine bereitet sich auf eine russische Sommeroffensive vor

Ukrainische Truppen kämpfen am Rande der Erschöpfung, bleiben aber fest entschlossen, weiterzukämpfen, bis sie den Russen ihren Glauben nehmen können, “dass wir besiegt werden können”. 

von Christopher Miller | Financial Times

Die Drohung Donald Trumps, die US-Unterstützung einzustellen und sich aus den Waffenstillstandsgesprächen zwischen Russland und der Ukraine zurückzuziehen, hat in Kiew Besorgnis ausgelöst. Ukrainische Offizielle und Militärs rechnen nun mit einer blutigen russischen Sommeroffensive, die den weiteren Verlauf des Krieges maßgeblich beeinflussen könnte. 

Während die ukrainische Führung weiterhin auf eine 30-tägige Waffenruhe drängt, machen sich viele keine Illusionen mehr, dass der Krieg bald enden könnte, wie ukrainische Regierungsvertreter gegenüber der Financial Times erklärten. Russland zeige keinerlei Anzeichen, seine Angriffe zurückzufahren oder echte Zugeständnisse zu machen. Das jüngste Treffen in der Türkei habe die ukrainischen Verhandlungsführer vielmehr darin bestärkt, dass ein Frieden in weiter Ferne liege. Dort habe der russische Chefunterhändler laut einem ukrainischen Vertreter gedroht, erneut in die nordukrainischen Regionen Sumy und Charkow einzumarschieren und diese einzunehmen. Nur wenige Tage später äußerte sich Präsident Wladimir Putin bei einem Besuch in der russischen Grenzregion Kursk, von wo ukrainische Truppen zuvor verdrängt wurden, zustimmend, als ein lokaler Beamter vorschlug, das benachbarte Sumy „sollte uns gehören“. Daraufhin verkündete Putin, seine Streitkräfte würden eine „Sicherheitszone“ entlang der ukrainischen Grenze errichten, ein Begriff, der bereits in der Vergangenheit für grenzüberschreitende Angriffe verwendet wurde.

Die schwankende Unterstützung Washingtons für Kiew hat den russischen Präsidenten zusätzlich ermutigt. Nach einem längeren Gespräch mit Putin teilte der US-Präsident dem ukrainischen Präsidenten Wladimir Selensky mit, beide Seiten sollten selbst die Bedingungen für einen Waffenstillstand finden. Auch europäische Regierungen zögern, ihre Sicherheitszusagen umzusetzen, darunter eine vorgeschlagene Truppe zur „Abschreckung“, die bisher nicht zustande gekommen ist und von der manche in Kiew fürchten, dass sie nie realisiert wird.

Yegor Firsow, Abgeordneter und Kommandeur einer Drohneneinheit in der 109. Brigade der Ukraine, meinte, es sei an der Zeit, sich der „harten Realität“ zu stellen, dass Russlands Zuversicht den westlichen Zusammenhalt überdauern könnte. „Putin ist überzeugt, dass er die Ukraine brechen könne“, sagte er. „Er glaubt einfach, dass unsere vollständige Kapitulation nur eine Frage der Zeit ist  und dass die USA ihre Hilfe von heute auf morgen einstellen könnten. Putin betrachtet Europa als schwach und unentschlossen.“

Entlang der über 1.000 Kilometer langen Frontlinie in der Ukraine hat sich ein brutaler, tödlicher Rhythmus des Krieges eingespielt. Moskau formiert sich neu, laut Militärs und Analysten als Vorbereitung auf einen neuen Großangriff in den kommenden Monaten.

Ukrainische Truppen an der Ostfront berichten, dass russische Infanterie mit Motorrädern, Buggys und Elektrorollern unterwegs ist. Said Ismailow, ein Soldat, der früher oberster muslimischer Geistlicher der Ukraine war, verglich die russischen Truppen mit einer „Heuschreckenplage“, sie sei keine große Welle, sondern ein endloser Strom. „Verluste interessieren die nicht. Sie stoßen einfach immer weiter vor. Nicht um Kilometer zu gewinnen, sondern Meter – zerstörte Schützengräben, ein paar zerschossene Bäume, die Ruinen eines Hauses.“

In den vergangenen Wochen haben sich die Kämpfe um Pokrowsk und Konstantinowka verschärft und setzen die Festungen Kramatorsk und Slawjansk unter Druck und nähern sich den Grenzen zur benachbarten Region Dnjeprpetrowsk. Unterstützt wird die russische Infanterie von schwerem, hochtechnologischem Gerät: Gleitbomben, Raketen und Drohnen, darunter neue Modelle mit Glasfasertechnologie, die sie unempfindlich für elektronische Abwehrmaßnahmen machen. Die ukrainischen Verteidiger mussten sich hingegen aus Städten wie Torezk und Tschassiw Jar zurückziehen, denn das Halten dieser Stellungen war zu verlustreich geworden. 

Dennoch seien die Ukrainer „weiterhin eine ernstzunehmende Verteidigungskraft“, sagte Franz-Stefan Gady, ein Militäranalyst aus Wien. „Wir können mit schrittweisen russischen Fortschritten rechnen, aber nicht mit einem plötzlichen Zusammenbruch der Frontlinie.“ Die Ukraine sei mittlerweile deutlich weniger auf Artillerie aus den USA angewiesen, denn europäische Staaten hätten in dieser Hinsicht aufgestockt. Russland verfüge nur über eine „geringfügige Überlegenheit bei der Artillerie“, fügte er hinzu.

Ein stellvertretender Kommandeur einer Sturmtruppe bei Pokrowsk sagte, man halte die Linie zwar, aber man sei erschöpft. Er kämpfe seit 2014, trotz Verwundungen und verpasster familiärer Ereignisse. Trumps Wahlkampfversprechen, den Krieg in „24 Stunden zu beenden“, habe ihm kurzzeitig Hoffnung gemacht. Doch die jüngsten Entwicklungen hätten ihn und seine Kameraden dazu gezwungen, die Nachrichten zu ignorieren – aus Selbstschutz.

„Es ist lediglich Lärm. Propaganda. Lügen“, sagte er. Der Krieg habe seine Welt auf „die nächste Mission,  den nächsten Kampf“ reduziert – so sehr, dass er sich manchmal nicht mehr wie ein Mensch fühle. „Ich bin ein Zombie.“

Dieses Gefühl von Erschöpfung und Frustration greift in den Reihen um sich. Unter erfahrenen Offizieren wie auch unter frisch eingezogenen Soldaten schwindet– befeuert von dem wachsenden Eindruck, dass es keinen klaren Plan zur Beendigung des Krieges gebe und Menschenleben sinnlos geopfert würden – die Kampfmoral .

Alexander Schyrschyn, Bataillonskommandeur in der Eliteeinheit der 47. Mechanisierten Brigade, äußerte öffentlich seine Bedenken. Seine Einheit fährt US-amerikanische Abrams- und deutsche Leopard-Panzer, Symbole westlicher Unterstützung, doch er schrieb in sozialen Medien, selbst die beste Ausrüstung könne die fehlerhafte Einsatzplanung nicht kompensieren, die seine Männer unnötig in Gefahr bringe. „In den vergangenen Monaten fühlte es sich an, als ob wir ausgelöscht werden, als ob unser Leben nichts wert sei.” Die Probleme seien systemisch und lägen nicht auf der personellen Ebene, fügte er hinzu. Er rief zu einer nüchternen Neubewertung der Einsatzfähigkeit auf und zu einer Strategie, die der Lage an der Front gerecht werde. Der ukrainische Generalstab erklärte daraufhin, man prüfe die Angelegenheit.

Der Krieg hat lang bestehende Schwächen in der ukrainischen Kommandostruktur offengelegt. Diese zu beheben sei schwer, „wenn man sich in einem Krieg mit der höchsten Intensität seit dem Zweiten Weltkrieg befindet“, sagte Konrad Muzyka, Direktor von Rochan, einer Beratungsfirma für Verteidigung. Einige Reformen seien bereits angestoßen, aber es bleibe fraglich, ob sie weitreichend genug seien oder rechtzeitig umgesetzt werden können.

Eine der drängendsten Herausforderungen bleibt die Personalfrage. Bei einem Treffen im Kreml zur wirtschaftlichen Entwicklung Russlands behauptete Putin kürzlich, bis zu 60.000 Russen würden monatlich freiwillig zur Armee stoßen, das sind doppelt so viele wie die rund 30.000 Ukrainer, die seiner Aussage nach eingezogen würden. Einige Analysten halten beide Zahlen für leicht übertrieben.

Die Ukraine jedoch weigert sich trotz des Drucks aus den USA und der anderen Verbündeten weiterhin, das Einzugsalter unter 25 Jahre zu senken. Die Mobilisierungskampagne ist weiterhin von Korruption und Zwangsrekrutierung geprägt, bei denen Rekrutierungsoffiziere nicht registrierte Männer von der Straße weg verschleppen. Der Versuch, 18 bis 24-Jährige für die Armee zu gewinnen, sei weitgehend gescheitert. Laut Personen, die mit der Mobilisierungskampagne vertraut sind, hätten sich nur einige Hundert gemeldet.

Ein seltener Lichtblick bleibt die heimische Produktion von Drohnen, die erhebliche Schäden anrichten und russische Vorstöße bremsen können. Das Militär greift dabei auf Gamification zurück, um Drohneneinheiten zu motivieren: Eine im April gestartete Initiative belohnt Soldaten mit digitalen Punkten für verifizierte Videoaufnahmen zerstörter russischer Ziele. Die Punkte können auf einer speziellen Plattform, dem „Brave 1 Market“, gegen Ersatzteile für Drohnen und Ausrüstung eingetauscht werden.

Dennoch warnte Walerij Saluschny, ehemaliger ukrainischer Oberbefehlshaber und aktueller Botschafter in Großbritannien, in London davor, ein „Wunder zu erwarten , das der Ukraine den Frieden bringen wird“. 

„Angesichts eines enormen Mangels an Personal und einer katastrophalen wirtschaftlichen Lage können wir nur noch von einem hochtechnologischen Überlebenskrieg sprechen“, sagte er. Die Priorität für die Ukraine sei es, so zu kämpfen, dass „mit minimalem Personaleinsatz und minimalen wirtschaftlichen Mitteln ein maximaler Effekt erzielt wird“.

Russische Raketenangriffe auf zivile Gebiete weit entfernt von der Frontlinie bleiben ein großes Problem. Das Team von Muzyka verzeichnete im Frühjahr mehrere Großangriffe, teilweise mit über 200 Raketen. Russland produziert derzeit mehr Raketen, als es abschießt, während der Bestand an ukrainischen Patriot-Abfangsystemen zur Neige geht.

Auch die Drohnenangriffe nehmen zu. In den ersten 20 Tagen des Monats Mai habe Russland über 2.000 iranische Shahed-Drohnen gestartet. Kiew habe seine Fähigkeit verbessert, zwischen Attrappen und echten Sprengköpfen zu unterscheiden, doch die schiere Menge werde zunehmend unkontrollierbar. „Immer mehr von ihnen werden durchkommen und ihre Ziele treffen“, sagte Muzyka. Russische Drohnen wurden inzwischen aufgerüstet und fliegen nun höher und schneller, was es schwerer macht, sie mit Maschinengewehren abzuschießen. Patriot-Systeme und F-16-Kampfjets – beide knapp in ihrer Zahl – bleiben oft die einzigen wirksamen Gegenmittel.

Im Mai verlor die Ukraine einen ihrer F-16-Jets bei einem Einsatz, nachdem der Pilot drei Ziele abgeschossen hatte und sich anschließend mit dem Schleudersitz retten musste. Immer mehr Soldaten – und zunehmend auch Offizielle – sagen, das Land müsse sich auf einen langen, asymmetrischen Kampf einstellen. „Wie lange wird es dauern?“, fragte Firsow und gab gleich auch die Antwort: „Solange bis wir den Russen ihren Glauben nehmen können, dass sie uns besiegen können.“

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Christopher Miller ist Chefkorrespondent der Financial Times für die Ukraine. Er lebt seit 2010 in der Ukraine und berichtet von dort. Er ist Autor des Buches „Der Krieg kam zu uns: Leben und Tod in der Ukraine“, das 2024 mit dem Internationalen Witold Pilecki Buchpreis ausgezeichnet wurde.https://anti-spiegel.ru/2025/die-ukraine-erwartet-eine-russische-sommeroffensive/

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