Ich erzähle bei Tacheles ständig und schreibe in meinen Artikeln, dass die westlichen Sanktionen weitgehend wirkungslos sind und dass die russische Wirtschaft – im Gegensatz zur Wirtschaft in der EU – brummt und dass die Reallöhne in Russland stark steigen. Da werfen die Meldungen der letzten Tage über den Wertverlust des russischen Rubel, über eine hohe Inflation und sehr hohe Zinssätze in Russland natürlich Fragen auf, denn das passt nicht zu dem, was ich berichte.
Wie der Zufall es will, hat der Spiegel unter der Überschrift „Rubel-Absturz und hohe Inflation – »Die russische Zentralbank hat die Situation nicht mehr voll im Griff«“ ein Interview mit einem ganz und gar nicht pro-russischen, sondern pro-westlichen Wirtschaftsexperten veröffentlicht. Damit man mir nicht vorwerfen kann, ich würde „russische Propaganda“ verbreiten und die Lage in Russland schönreden, werde ich mich auf die Informationen beziehen, die dieser Experte den Spiegel-Lesern mitteilt.
Der Experte ist der gebürtige Russe Vasily Astrov, der an renommierten westlichen Universitäten studiert hat und heute Ökonom beim Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche (wiiw) und Länderexperte für Russland ist.
Der Spagat zwischen Sozialem und Inflation
Das Interview beginnt mit der Frage nach den hohen Zinsen in Russland, denn die russische Zentralbank hat den Leitzins kürzlich auf 21 Prozent angehoben, um die steigende Inflation zu bekämpfen. Astrov antwortet darauf, die russische Zentralbank habe „die Situation nicht mehr voll im Griff“, weil die Inflation sich trotz der Zinserhöhungen beschleunigt hat. Auf die Nachfrage des Spiegel, warum die Zinserhöhungen nicht wirken, erklärt Astrov:
„Bis vor Kurzem gab es sehr günstige Immobilienkredite für breite Bevölkerungsschichten, und es gibt sie immer noch für bestimmte Gruppen wie kinderreiche Familien, gefragte Berufe wie IT-Spezialisten und Menschen in den okkupierten Gebieten. Wer eine Immobilie im besetzten Teil der Ukraine kaufen möchte, zahlt zum Beispiel nur zwei Prozent Zinsen. Auch Unternehmen von besonderem staatlichem Interesse, etwa aus der Rüstungsindustrie, erhalten billige Kredite weit unter Marktniveau. Solange der Staat solche Programme subventioniert, kann die Zentralbank die Kreditvergabe nicht effizient steuern. Zudem gibt es weitere strukturelle Inflationstreiber.“
Ich habe oft berichtet, dass die meisten Russen in Eigentumswohnungen leben und dass der russische Staat das mit diversen Programmen fördert, bei denen er beispielsweise für Familien mit Kindern sogar einen Teil des nötigen Eigenkapitals zum Kauf einer Wohnung beisteuert und Kredite mit geringen Zinssätzen anbietet. Das Sozialsystem in Russland ist viel mehr auf Hilfe zur Selbsthilfe ausgelegt als beispielsweise in Deutschland, wo sich das Sozialsystem im Grunde darin erschöpft, hilfsbedürftigen Menschen gerade genug Geld zu bezahlen, damit es zum Überleben reicht.
Die russischen Sozialprogramme mit niedrigen Zinsen sind für die russische Zentralbank in der Tat ein Problem, weil sie geldpolitischen Maßnahmen der Zentralbank bei den Zinssätzen konterkarieren. Hier beißen sich also der russische Sozialstaat, der verschiedene Bevölkerungsgruppen gezielt fördert, und die Geldpolitik der Zentralbank.
Die Reallöhne in Russland steigen weiterhin stark
Da Astrov „weitere strukturelle Inflationstreiber“ angesprochen hat, fragt der Spiegel nach, welche das seien, und Astrov antwortet:
„Erstens das kräftige Lohnwachstum. Unternehmen wetteifern um Arbeitskräfte, indem sie die Löhne stetig erhöhen. Selbst wenn man die Inflation abzieht, steigen die Löhne real immer noch um acht bis neun Prozent pro Jahr. Davon profitieren die unteren Einkommensschichten überproportional, und ihre Konsumausgaben steigen.“
Das ist ein wichtiger Punkt, der exakt das bestätigt, was ich immer sage: In Russland steigen die Reallöhne sehr stark. In Deutschland freut man sich derzeit darüber, dass die Reallöhne mal wieder um etwa zwei Prozent steigen, nachdem sie in den letzten Jahren so stark gefallen sind, wie nie zuvor seit dem Krieg. In Russland hingegen steigen die Reallöhne (also die Löhne nach Abzug der Inflation) um fast zehn Prozent.
Wenn man bedenkt, dass die Inflation in Russland ebenfalls bei etwa neun Prozent liegt, dann bedeutet das, dass die Löhne in Russland derzeit pro Jahr um etwa 18 Prozent steigen. Das bestätigt exakt das, was ich immer schreibe.
Der Spiegel fragt dann noch einmal nach, ob die russischen Angaben zur Inflation auch stimmen, weil sich die Preise für einzelne Lebensmittel teilweise sehr stark erhöht hätten und andere Experten schätzen, die Inflation könne bis zu 20 Prozent betragen.
Aber Astrov bestätigt die russischen Daten und sagt:
„Ich denke nicht, dass das Statistikamt Daten bewusst manipuliert. Unser Institut hat vergangenes Jahr die offiziellen russischen Zahlen mit eigenen Schätzungen überprüft. Wir kamen zu dem Schluss, dass die Statistiken für Inflation, für das Wirtschaftswachstum und für das Einzelhandelsvolumen wahrscheinlich korrekt sind.“
Das Problem mit den neuen US-Sanktionen
Allerdings haben die neuesten US-Sanktionen durchaus Auswirkungen auf die Lage in Russland, denn als zweiten Inflationstreiber nennt Astrov:
„Auf der Angebotsseite treiben sogenannte Sekundärsanktionen die Preise. US-Präsident Joe Biden hat im Dezember 2023 mit seinem Erlass erlaubt, Banken aus den Drittländern wie China, der Türkei oder den Vereinigten Arabischen Emiraten zu sanktionieren, wenn diese Importzahlungen für Güter annehmen, die in Russlands Verteidigungssektor verwendet werden können. Seitdem prüfen diese Banken alle Exportgeschäfte mit Russland äußerst genau. Das führt in der Praxis zu erheblichen Verzögerungen oder gar zu einer Weigerung der Zahlungsannahme. Russland ist damit gezwungen, viele Importe nun über Umwege wie etwa andere Drittländer abzuwickeln, auch das hat die Kosten erhöht. In letzter Zeit kam auch die Rubelabwertung infolge der neuen Kriegseskalation und der jüngsten US-Sanktionen dazu. Sie wird die importierten Güter und Dienstleistungen verteuern, was ebenfalls zu hoher Inflation beitragen wird. Um den Abwertungsdruck zu mildern, hat die Zentralbank am Mittwoch beschlossen, die Deviseneinkäufe vorerst bis Jahresende einzustellen.“
Die Wirkung der Sekundärsanktionen ist in der Tat ein Problem, vor dem in Russland viele Firmen stehen. Allerdings ist das nicht wirklich neu und die russischen Firmen sind inzwischen sehr geschickt darin, immer neue Wege zur Bezahlung von Importen zu finden. Allerdings erhöht das natürlich die Preise für die betroffenen Waren, was wiederum zur Inflation beiträgt, die aber – siehe die Lohnerhöhungen in Russland – für die meisten Menschen in Russland (bisher) kein Problem darstellt.
Übrigens haben wohl vor allem die von den USA gegen die Gazprombank verhängten Sanktionen zur Abwertung des Rubel geführt, denn dadurch wird nun erwartet, dass Russland weniger Devisen einnimmt, was die zu steigenden Kursen der Devisen, also zur Abwertung des Rubel führt.
Allerdings können diese neuen US-Sanktionen gegen die Gazprombank die europäische Wirtschaft weit härter treffen als die russische, denn sollten europäische Banken sich an diese Sanktionen halten, könnte es für die europäischen Länder schwierig oder unmöglich werden, noch russisches Öl und Gas zu importieren. Derzeit macht der russische Anteil am europäischen Gasmix trotz aller Bemühungen der EU wieder etwa 20 Prozent aus. Wenn das wegfallen sollte, noch dazu im jetzt kommenden Winter, dürfte das zu stark steigenden Energiepreisen in der EU führen.
Das Problem mit den hohen Zinsen
Ein weiteres Problem in Russland sind die hohen Zinsen selbst, denn für russische Unternehmen ist es unrentabel geworden Kredite aufzunehmen, und wer Kredite mit variablen Zinssätzen aufgenommen hat, bekommt nun Probleme. Dazu sagt Astrow:
„Der Druck auf die Realwirtschaft nimmt zu. Die Zinsen liegen mittlerweile über der Rentabilität der meisten Sektoren. Für viele Unternehmen ist es sinnlos, Kredite für Investitionen aufzunehmen. Das ändert sich erst, wenn die Zinsen deutlich sinken. Ich sehe die Gefahr, dass die Zentralbank die Wirtschaft in eine Rezession treibt.“
Diese Gefahr mag bestehen, ist aber derzeit noch nicht akut, auch wenn in Russland die Zahl der Firmen mit finanziellen Problemen steigt. Der Spiegel gibt in einer weiteren Frage selbst zu, dass die russische Wirtschaft immer noch wächst, allerdings weist der Spiegel darauf hin, dass der IWF Russlands Wirtschaftswachstumsprognose für 2025 von 1,5 auf 1,3 Prozent gesenkt hat, wobei der Spiegel selbst einräumt, dass Russland „trotz westlicher Sanktionen bisher erstaunlich widerstandsfähig“ geblieben ist.
Auf die Frage des Spiegel, ob die Senkung der Wirtschaftsprognose des IWF darauf hindeutet, dass „Russlands Kriegswirtschaft jetzt ihre Grenzen“ erreicht, antwortet Astrov:
„Ich glaube nicht, dass das langsamere Wachstum darauf hindeutet. Die Wirtschaftsschwäche ist eher eine Folge falscher geldpolitischer Entscheidungen. Das Problem ist hausgemacht.“
Mit den „falschen geldpolitischen Entscheidungen“ meint Astrov wahrscheinlich den oben erwähnten Widerspruch zwischen den russischen Sozialprogrammen und der Geldpolitik der Zentralbank.
Vollbeschäftigung in Russland
In dem Interview wird dann auch noch das Problem angesprochen, dass der russischen Wirtschaft derzeit Arbeitskräfte fehlen. In Russland herrscht Vollbeschäftigung und Arbeitgeber überbieten sich bei der Suche nach neuen Mitarbeitern beim Lohn und anderen Sozialprogrammen der Firmen.
Der Grund dafür ist aber, auch wenn Astrov das anders sieht, weniger der Krieg oder die Armee, zu der sich viele Männer melden, sondern vor allem die dank der kräftigen Lohnerhöhungen steigende Kaufkraft, denn dadurch ist die Binnennachfrage stark gestiegen und die Russen konsumieren mehr und nehmen mehr Dienstleistungen in Anspruch, was natürlich zu steigender Beschäftigung in den betreffenden Branchen führt.
Astrov nennt auch die Abwanderung vieler Russen ins Ausland nach Beginn der Eskalation des Ukraine-Konfliktes als Grund für den Arbeitskräftemangel, aber auch das sehe ich anders, denn immer mehr dieser Auswanderer kehren nach Russland zurück. Auch das ist keine russische Propaganda, das hat im Mai beispielsweise Bloomberg in einem sehr interessanten Artikel gemeldet, den ich damals übersetzt habe.
Die Probleme mit dem Arbeitskräftemangel dürften eher darin liegen, dass Russland immer mehr Waren, die es zuvor importiert hat, dank der Sanktionen nun selbst produzieren wird, was ebenfalls die Nachfrage nach Arbeitskräften erhöht. Und ein Problem, das auch Astrov anspricht, ist sicherlich die Tatsache, dass derzeit weniger Arbeitskräfte aus ehemaligen Sowjetrepubliken nach Russland kommen, die bisher die schlecht bezahlten Jobs übernommen haben. Dafür gibt es viele Gründe, unter anderem das härtere Durchgreifen der russischen Regierung gegen illegale Migration aus diesen Ländern nachdem Migranten aus diesen Ländern in Russland Terroranschläge wie den Anschlag auf Crocus-City in Moskau begangen haben.
Die Terroranschläge haben in Russland zu einer Stimmung geführt, bei der im Volk der Ruf nach strengerer Regulierung der Einwanderung aus diesen Ländern laut wurde, und dem ist die russische Regierung nachgekommen und hat einige gesetzliche Regelungen verschärft, was dazu führt, dass nun weniger Arbeitsmigranten aus ehemaligen Sowjetrepubliken nach Russland kommen.
Kurz und gut, der Arbeitskräftemangel ist einerseits ein Problem für die Wirtschaft, weil er zu stark steigenden Löhnen führt, andererseits aber gut für die Menschen, die sich über die kräftigen Lohnerhöhungen freuen.
Ist der fallende Rubelkurs ein Problem?
Eine Tatsache wurde in dem Spiegel-Interview nicht angesprochen, nämlich die Frage nach den Auswirkungen des fallenden Rubelkurses. Die sind nämlich sehr überraschend.
Die russische Regierung dürfte sich über den fallenden Rubelkurs freuen, weil das mehr Rubel in den Staatshaushalt spült. Und der russische Staatshaushalt, also auch die Ausgaben der russischen Regierung, ist nun einmal in Rubel aufgelegt.
Ein einfaches Beispiel zeigt das: Wenn der Rubel bei 100 Rubel für den Dollar liegt und Öl 60 Dollar kostet, bekommt Russland für sein Öl 6.000 Rubel pro Barrel. Fällt der Rubelkurs auf 120 Rubel für den Dollar, bekommt Russland für sein Barrel Öl plötzlich 7.200 Rubel.
Diese Rechnung gilt sowohl für den russischen Staatshaushalt als auch für alle russischen Exporteure, die nun mehr Rubel für ihre exportierten Waren bekommen und daher wohl nicht unglücklich über den Kursverfall des Rubel sind.
Es wird sogar von einigen Experten vermutet, dass die russische Regierung am Verfall des Rubelkurses um 20 Prozent nicht ganz unschuldig sein könnte, weil sie so ihren finanziellen Spielraum erhöhen kann, ohne Kredite aufnehmen zu müssen. Und der Krieg kostet ja nun einmal Geld, und zwar in Rubel, weil der russische Staat den Sold der Soldaten und die russischen Waffen in Rubel bezahlt.
Da die Sanktionen dazu geführt haben, dass weniger nach Russland importiert und mehr im Land produziert wird, wirkt sich der fallende Rubelkurs jedoch nur geringfügig auf die Inflation aus. Laut Berechnungen führt ein Kursverlust des Rubel von zehn Prozent nur zu einer Erhöhung der Inflation im 0,5 Prozent.
Auch Urlaubsreisen werden durch den Rubelverfall nicht teurer, weil viele Russen wegen der Sanktionen und der damit verbundenen Probleme beim Reisen – beispielsweise nach Europa – Russland als Urlaubsland entdeckt haben. Sie müssen im Urlaub also nicht in Dollar oder Euro bezahlen, was den Urlaub derzeit um 20 Prozent verteuern würde, sondern in Rubel.
Daher sind die Auswirkungen des fallenden Rubelkurses, was natürlich zu Preissteigerungen bei importierten Waren führen wird, insgesamt nicht dramatisch und für Importeuer und den Staat sogar eine Freude.
Solange die Inflation nicht weiter steigt und die Lohnerhöhungen übertrifft, ist der Verfall des Rubelkurses genauso wenig ein echtes Problem, wie die derzeitige Inflation.
Fazit: Der russischen Wirtschaft geht es immer noch recht gut
Insgesamt steht die russische Wirtschaft also immer noch gut da, die Inflation ist zwar wieder gestiegen, was wegen der stark steigenden Löhne aber nicht zu Kaufkraftverlusten führt.
Die neuen US-Sanktionen bereiten Teilen der russischen Wirtschaft derzeit gewisse Schwierigkeiten, was aber zeitlich begrenzt sein dürfte, weil sich bisher immer Wege gefunden haben, Sanktionen zu umgehen.
Wenn die Hochzinsphase noch lange anhält, könnte das der russischen Wirtschaft schaden, weil es kreditfinanzierte Investitionen verhindert, allerdings sind russische Unternehmen in der Regel weniger verschuldet als westliche Unternehmen, weil die Zinsen in Russland traditionell hoch immer waren und Firmen daher nach Möglichkeit auf Kredite verzichtet haben.
Wer allerdings Kredite aufgenommen hat, für den könnten die steigenden Zinsen zu einem Problem werden, weshalb die Zahl der Insolvenzen in Russland ansteigen könnte. Aber im Gegensatz zu beispielsweise Deutschland ist die Zahl der Firmenpleiten in Russland auf einem niedrigen Niveau, weshalb das für die Wirtschaft insgesamt wohl erstmal kein ernsthaftes Problem wird, wie ja sogar Astrov bestätigt hat.
Die russische Wirtschaft wurde seit Einführung der ersten „echten“ Wirtschaftssanktionen im Jahre 2014 vom Westen schon oft totgesagt, aber sie ist stattdessen gewachsen und hat die Probleme bisher immer gelöst. Momentan deutet nicht besonders viel darauf hin, dass sich daran in naher Zukunft etwas ändert.