Der französische Außenminister Jean-Noël Barrot sagte in einem Interview mit der BBC, die Ukraine könne „in der Logik der Selbstverteidigung“ französische Langstreckenraketen auf Russland abfeuern. Er hat also die Erlaubnis des Einsatzes von aus Frankreich gelieferten SCALP-Marschflugkörpern gegen Ziele in Russland verkündet. Da derzeit in so ziemlich allen Medien über dieses Interview berichtet wird, werde ich den BBC-Artikel dazu hier komplett übersetzen, damit Sie sich selbst ein Bild von dem machen können, was er gesagt hat, denn das war stellenweise sehr entlarvend.
Zuvor will ich aber erklären, wo Frankreichs Interessen im Ukraine-Konflikt liegen und warum ausgerechnet Frankreich in der EU einer der radikalsten Vertreter der anti-russischen Politik ist. Danach werden quasi Beiläufige Aussagen in dem BBC-Interview verständlicher.
Für Frankreich ist Russland der Gegner Nummer 1
In der Ukraine, das wird inzwischen im Westen sehr offen gesagt, geht es um Geopolitik, nicht um Demokratie oder andere „westliche Werte“. Es geht dem Westen darum, Russland zu stoppen, es geht dem Westen um einen Sieg im Kampf der Systeme, nicht um Frieden, Demokratie oder Menschenrechte.
Die treibende Kraft dabei sind die USA, die ihre Weltmachtstellung um jeden Preis behalten wollen und daher gegen die geopolitischen Konkurrenten Russland und China vorgehen, die sich dem Willen der USA nicht unterwerfen wollen. Das finden auch immer mehr Länder des globalen Südens attraktiv, die die Ausbeutung und das brutale Aufzwingen von angeblichen „Werten“ durch den Westen satt haben. Daher bröckelt der Einfluss der USA außerhalb des Westens, was eine Herausforderung für die USA ist.
Die Staaten der EU sind Vasallen der USA, die dem US-Kurs folgen müssen, ob sie wollen oder nicht. Natürlich tun die meisten Regierungen der EU-Staaten das freiwillig, weil sie der tranatlantischen Politik treu ergeben sind. Aber das Wort „transatlantisch“ sagt dabei alles, denn übersetzt bedeutet es „über den Atlantik“ und sagt daher klar aus, um wessen Interessen es dabei geht: Um die des Landes auf der anderen Seite des Atlantik, nicht um die Interessen Europas.
Aber es gibt auch Staaten in der EU, die ein echtes eigenes Interesse daran haben, Russland als geopolitische Macht auszuschalten. Dabei steht Frankreich an erster Stelle, denn dass Frankreich seinen Einfluss in seinen ehemaligen Kolonien in Afrika verliert, ist für Frankreich, das auf billige Rohstoffe aus diesen Ländern angewiesen ist, eine existenzielle Bedrohung. Die Schuld dafür gibt Frankreich Russland, nicht der eigenen neokolonialen Politik, denn Russland ist bereit, die afrikanischen Länder bei ihrem Kampf um Souveränität zu unterstützen.
Für Frankreich ist Russland daher derzeit der wohl wichtigste Gegner auf dem geopolitischen Schlachtfeld. Das ist auch der Grund, warum es ausgerechnet der französische Präsident Macron war, der Anfang des Jahres als erster die Entsendung von NATO-Truppen in die Ukraine zum Kampf gegen Russland ins Spiel gebracht hat und diese Idee bis heute im Gespräch hält. Es geht Frankreich, das wird dort inzwischen sehr offen gesagt, nicht um die Ukraine, sondern um seinen Kampf gegen Russland.
Das zeigt auch das Interview des französischen Außenministers in der BBC, wenn man es aufmerksam liest. Daher habe ich es übersetzt, damit Sie sich ein eigenes Bild davon machen können.
Ohne die USA geht nichts
Vor der Übersetzung noch eine letzte Vorbemerkung zum Verständnis: Frankreichs Erlaubnis an Kiew, seine Marschflugkörper gegen Ziele in Russland einzusetzen, ist wertlos, solange die USA dazu nicht die Erlaubnis geben. Die französischen SCALP-Marschflugkörper sind baugleich mit den britischen Storm Shadows und in London wurde noch bis vor kurzem ganz offiziell erklärt, man habe Kiew zwar schon lange erlaubt, die britischen Storm Shadows gegen Ziele in Russland einzusetzen, warte aber noch auf die Erlaubnis der USA, weil entscheidende Komponenten der Navigationssysteme der Raketen aus den USA kommen, daher könne man die Storm Shadows nur mit Erlaubnis Washingtons einsetzen.
Das gleiche gilt natürlich auch für die französischen SCALP.
Erst nachdem die US-Regierung Kiew die Erlaubnis gegeben hat, US-Raketen gegen Ziele in Russland einzusetzen, konnten auch die britischen Storm Shadows auf Ziele in Russland abgefeuert werden.
Nach Putins letzter Ansprache und dem Einsatz der bisher geheimen russischen Rakete „Oreschnik“ hat es bisher keine weiteren Angriffe mit westlichen Raketen auf Ziele in Russland gegeben. Im Washington war man offensichtlich sehr erschrocken über Putins Worte und die neue russische Rakete und hat den Einsatz dieser Waffen gegen Ziele in Russland – zumindest vorerst – unterbrochen.
Daher ist es entscheidend, ob Washington auch nach Putins Ansprache weiterhin die Erlaubnis gibt, Ziele in Russland mit westlichen Waffen anzugreifen. Das betrifft auch die französischen Raketen.
Kommen wir nach dieser langen, aber zum Verständnis nötigen Vorrede nun zur Übersetzung des BBC-Artikels.
Beginn der Übersetzung:
Keine „roten Linien“ bei der Unterstützung der Ukraine, sagt der französische Außenminister gegenüber BBC
Bei der Unterstützung der Ukraine gebe es keine „roten Linien“, sagte der französische Außenminister gegenüber der BBC.
Jean-Noël Barrot sagte, die Ukraine könne „in der Logik der Selbstverteidigung“ französische Langstreckenraketen auf Russland abfeuern, wollte jedoch nicht bestätigen, ob französische Waffen bereits eingesetzt worden seien.
„Das Prinzip ist gesetzt … unsere Botschaften an Präsident Selensky wurden gut aufgenommen“, sagte er in einem Exklusivinterview für Sunday with Laura Kuenssberg.
Der französische Präsident Macron deutete Anfang des Jahres an, dass Frankreich bereit sei, das seine Raketen auf Russland abgefeuert werden. Aber Barrots Äußerungen sind bedeutsam, denn sie kommen nur wenige Tage, nachdem US-amerikanische und britische Langstreckenraketen zum ersten Mal auf diese Weise eingesetzt wurden.
Barrot, der am Freitag in London Gespräche mit Außenminister David Lammy führte, sagte, westliche Verbündete sollten der Unterstützung der Ukraine gegen Russland keine Grenzen setzen und „keine roten Linien setzen und ausdrücken“.
Auf die Frage, ob das auch französische Truppen im Kampf bedeuten könnte, sagte er: „Wir verwerfen keine Option.“
„Wir werden die Ukraine so intensiv und so lange wie nötig unterstützen. Warum? Weil unsere Sicherheit auf dem Spiel steht. Jedes Mal, wenn die russische Armee um einen Quadratkilometer vorrückt, rückt die Bedrohung einen Quadratkilometer näher an Europa heran“, sagte er.
Barrot deutete an, die Ukraine zum Nato-Beitritt einzuladen, wie Präsident Selensky es gefordert hatte. „Wir sind offen für eine Einladung und arbeiten daher in unseren Gesprächen mit Freunden und Verbündeten sowie Freunden und Verbündeten der Ukraine daran, sie unseren Positionen anzunähern“, sagte Barrot.
Und er schlug vor, dass die westlichen Länder ihre Verteidigungsausgaben erhöhen müssten: „Natürlich müssen wir mehr ausgeben, wenn wir mehr tun wollen, und ich denke, dass wir uns diesen neuen Herausforderungen stellen müssen.“
Barrots Äußerungen erfolgen nach einer Woche erheblicher Eskalation in der Ukraine – zum ersten Mal wurden Langstreckenraketen aus Großbritannien und den USA auf Russland abgefeuert, Russland feuerte angeblich einen neuen Raketentyp ab und Wladimir Putin deutete die Möglichkeit eines globalen Krieges an.
Eine Quelle der britischen Regierung beschreibt den Moment als „Knackpunkt“ vor dem Winter und vor Donald Trumps Rückkehr ins Weiße Haus.
Aber wie sollten die Verbündeten der Ukraine auf Putins Drohungen und die zunehmend gefährliche Lage der Ukraine reagieren? Ich habe mit Quellen innerhalb und außerhalb der britischen Regierung gesprochen, um zu verstehen, wie die nächsten Schritte aussehen könnten.
Was kommt für den Westen als nächstes?
Ganz oben auf der Liste steht die Aufrechterhaltung des Geldflusses und der militärischen Unterstützung. „Ich würde mit dem Dreifachen der europäischen Gelder für die Ukraine auftauchen und mich um russische Vermögenswerte kümmern“, sagte eine Quelle. „Wir müssen herausfinden, welche Kriegskasse die Ukraine aufbringen muss, um bis 2025 und bis 2026 kämpfen zu können – es ist schwer, vom US-Steuerzahler die Bezahlung der Rechnung zu verlangen.“
Es überrascht nicht, dass in der Verteidigungswelt das starke Gefühl herrscht, dass eine Erhöhung der Verteidigungsbudgets ein Teil der Antwort ist. Der Chef des Militärs, Admiral Sir Tony Radakin, der diese Woche Präsident Selensky besuchte, sagte uns vor zwei Wochen, dass die Ausgaben steigen müssten.
Aber da das Geld knapp ist und die Regierung zögert, auch nur ein Datum für die Erreichung ihres Ziels, 2,5 Prozent des BIP für die Verteidigung auszugeben, festzulegen, besteht kaum eine Chance auf plötzliche Injektionen zusätzlicher Milliarden.
Regierungsquellen betonen die langfristigen Verpflichtungen, die Großbritannien bereits eingegangen ist, insbesondere die Unterstützung der Ukraine mit Drohnen.
Geheimdienstinformationen, die wir an diesem Wochenende veröffentlichen können, zeigen, dass die Ukraine Mitte und Ende September Drohnen eingesetzt hat, um vier russische Munitionsdepots zu treffen, die Hunderte Kilometer von der Ukraine entfernt liegen. Es wird davon ausgegangen, dass die Angriffe die bisher größte Menge an von Russland und Nordkorea gelieferter Munition während des Konflikts erfolgreich zerstört haben. Es wurde nicht bestätigt, ob diese Drohnen von Großbritannien oder anderen bereitgestellt wurden.
Sie hoben auch einen im Juli zwischen Großbritannien und der Ukraine unterzeichneten Vertrag hervor, der dem Land helfen soll, sich langfristig zu rüsten.
Wie ist mit einer Reaktion auf Putins zunehmend bedrohliche Rhetorik? Die Botschaft aus mehreren Quellen lautet: Keine Panik.
Einer sagte: „Die ganze Zeit über hat er Drohungen ausgesprochen – wir dürfen uns davon nicht abschrecken lassen.“ Der Unterschied besteht laut einem ehemaligen Minister darin, dass Putins Äußerungen darauf abzielen, die Aufmerksamkeit des gewählten US-Präsidenten auf sich zu ziehen. „Russland will Trump mit Gründen helfen, die Hilfe abzustellen.“ Wenn es so klingt, als würde der Konflikt unerträglich gefährlich werden, wird der nächste US-Präsident vielleicht mehr daran interessiert sein, ihn zu beenden.
Wenn es um den nächsten US-Präsidenten geht, herrscht eine nervöse Pause, während Trumps Plan unklar bleibt. Die Hoffnung besteht darin, die Ukraine in die bestmögliche Position für Verhandlungen zu bringen, sagten mehrere Quellen, und ein Insider, der die Regierung beriet, sagte mir, dass dies möglicherweise eine Stärkung von Trumps eigener Verhandlungsfähigkeit bedeuten könnte. „Um [Trump] in eine Stimmung zu versetzen, in der es gut für die Ukraine ist – damit er wie der Typ aussieht, der den Krieg gestoppt hat, und nicht wie der Typ, der die Ukraine verloren hat.“
Im privaten Rahmen gibt es auch Vorschläge, die Ukraine dazu zu bringen, über einen akzeptablen Ausweg aus dem Konflikt nachzudenken. In der Öffentlichkeit werden Minister immer sagen, dass Russland für die illegale Invasion nicht belohnt werden sollte und dass es Sache der Ukraine und allein der Ukraine sei, zu entscheiden, ob und wann verhandelt und ob überhaupt ein Kompromiss angeboten werde.
Eine Quelle räumt jedoch ein, dass in der Regierung das Bewusstsein besteht, dass „jede Verhandlung Kompromisse beinhalten muss“.
„Wir müssen darüber nachdenken, was die Gegenleistung für die Ukraine sein könnte“, sagt ein ehemaliger Minister. „Wenn [Selensky] nachgeben würde, was bekommt er dann? Bekommt er eine NATO-Mitgliedschaft, um langfristig Sicherheit zu gewährleisten?“
Es besteht auch die Erkenntnis, dass die Bedrohung durch Russland bestehen bleibt – sei es in der Ukraine oder bei Sabotageversuchen auf unseren Straßen. „Sie sind buchstäblich mit den Nordkoreanern verbündet, die jetzt kämpfen, und die Iraner versorgen sie“, sagte eine Regierungsquelle. „Wir können sie jetzt nicht mehr als als etwas anderes als eine Bedrohung betrachten.“
Vielleicht ist die Realität eine dauerhaftere Bedrohung am östlichen Rand Europas. Vielleicht sind Russlands Aggression und gefährliche Allianzen eine Rückkehr zur Norm nach einer kurzen positiven Phase in den 90er Jahren. „Gewöhnen Sie sich daran“, sagte eine Quelle, „so haben wir schon immer gelebt.“